Angioödem
Angioödem
Syn: Angioneurotisches Ödem, Quincke-Ödem
Note: Diese Synonyme werden allgemein für Angioödeme benutzt, also auch für allergisch bedingte im Rahmen einer Urtikaria.
Def: lokalisiertes und selbstlimitiertes Ödem des subkutanen und submukosalen Gewebes infolge einer temporären Erhöhung der vaskulären Permeabilität aufgrund der Freisetzung vasoaktiver Mediatoren
Histr: - Erstbeschreibung durch den Kieler Internisten Heinrich Irenaeus Quincke (1842-1922) im Jahre 1882
- 1963 beschrieben Donaldson und Evans den C1-INH-Mangel als ursächlich für das hereditäre Angioödem.
Ät: - C1-Inhibitor-Defizienz
Allg: C1-INH hemmt das Komplement-, Gerinnungs-, Kallikrein/Kinin- und Fibrinolysesystem
PPh: Ein quantitativer oder funktioneller Mangel an C1-INH führt zu verstärkter Bradykinin-Bildung, die im Wesentlichen die Ödembildung induziert.
Note: Inhibitoren von Bradykinin sind Exopeptidasen, insbes. die Plasmacarboxypeptidase N (pCPN) und das Angiotensin-converting-Enzym (ACE). ACE-Hemmer können so über eine Akkumulation von Bradykinin zur Quincke-Symptomatik führen. Entsprechendes gilt auch für Angiotensin-II-Antagonisten.
- Faktor XII-Mutation
- Angiopoietin-1-Mutation (ANGPT1)
Lit: J Allergy Clin Immunol. 2017 Jun 8. pii: S0091-6749(17)30921-1. http://doi.org/10.1016/j.jaci.2017.05.020
- Urtikaria-assoziiertes Angioödem
PPh: Hauptmediator ist Histamin
Lok: - meist Gesichtsbereich, v. a. Augenlider
- keine Beteiligung des GI-Trakts
Vork: sehr viel häufiger als das Angioödem bei C1-INH-Defizienz
Hi: Ödem der Subkutis
Etlg: Für das Angioödem bei C1-Esterase-Inhibitor-Defizienz werden 2 Typen unterschieden:
- kongenital/hereditär (Typ 1)
Vork: - 85% d. F.
- Prävalenz von etwa 1:50.000
- in Deutschland ca. 500 Fälle bei vermutlich erheblicher Dunkelziffer
Man: - zwei Häufigkeitsgipfel der Erstmanifestation: zwischen dem 10. und 20. sowie zwischen dem 20. und 30. Lj.
- durchschnittlich drei Anfälle pro Jahr beim Betroffenen
Def: autosomal-dominante Synthesestörung des C1-Esterase-Inhibitors
Gen: Jeder Pat. ist für die C1-INH-Defizienz heterozygot und besitzt ein normales und ein defektes Gen des C1-INH (SERPING1-GEN) auf dem langen Arm des Chromosoms 11.
TF: Tamoxifen
Lit: J Eur Acad Dermatol Venereol. 2016 Nov 23. http://doi.org/10.1111/jdv.14056 (Mainz)
Etlg: - Typ I
Vork: ca. 80% d. F.
Gen: 1 normales und 1 Nullallel
Urs: Deletion oder fehlende Expression eines abnormalen Allels
Lab: erniedrigte Plasmaspiegel des funktionell intakten C1-Inhibitors
- Typ II
Vork: ca. 20% d. F.
Gen: 1 normales und 1 abnormales Allel
Urs: Punktmutation im C1-INH-Gen
Folg: Expression des funktionell defekten Gens
Lab: verminderte Serumkonzentration des funktionell intakten C1-INH, aber normale bis erhöhte Konzentration eines dysfunktionellen C1-INH
Prog: Letalität von ca. 30% bei Nichterkennung und -behandlung
Urs: Erstickung infolge des Larynxödems
- Typ III
Vork: extrem selten
Gen: gelegentlicher Nachweis einer Mutation des Faktors XII (Hageman-Faktor)
Ät: weitgehend unbekannt
Pg: relevant sollen hohe Östrogenspiegel in der Schwangerschaft oder orale Kontrazeptiva sein
- erworben (Typ 2)
Vork: - 15% d. F.
- Erstmanifestation i. d. R. im Erwachsenenalter
Etlg: - Typ I
Vork: häufiger als Typ II
Ät: B-Lymphozytenfunktionsstörungen
Urs: lymphoproliferative Erkrankungen, maligne Lymphome u. a.
Pg: Bildung von antiidiotypischen Antikörpern, die zu einer erhöhten Aktivierung von C1 führen
Lab: Erniedrigung von C1
- Typ II
Def: Autoimmunkrankheit mit IgG- oder IgM-Bildung gegen den C1-INH
Pg: Hemmung der Bindung von C1-INH an C1
Lab: normale oder erhöhte Plasmaspiegel eines dysfunktionellen C1-INH
Ass: andere Autoimmunkrankheiten
So: Gleich-Syndrom
TF: z. B. hormonelle Besonderheiten, Insektenstiche, Medikamente (insbes. ACE-Hemmer und Antgiotensin-II-Antagonisten, Hormonpräparate), Nahrungs- und Genussmittel, psychischer Stress, Traumata, Vibration
Note: Das Risiko, nach dem Wechsel von einem Angioödem-auslösenden ACE-Hemmer auf einen Angiotensin-Rezeptor-Blocker erneut ein Angioödem zu entwickeln, liegt wahrscheinlich unter 10%.
Lit: Ann Allergy Asthma Immunol 2008; 101: 495-9
PT: MA
KL: - Ödeme der Haut (und ggf. Schleimhäute) bis zu 48 h persistierend, umschrieben, teigig, blass, meist solitär, ggf. aber auch multipel, charakteristischerweise ohne Juckreiz und Quaddeln
- fakultativ prämonitorische Exantheme, die makulös, gyriert, anulär-serpiginös oder kokardenartig auftreten können
- rezidivierende abdominelle Schmerzen
Lok: Prädilektionsstelle: Extremitäten, Gesicht, Stamm
Note: bei Männern rel. häufig auch das äußere Genitale, etwas seltener aber auch bei Frauen
TF: lokale Traumen wie längeres Radfahren, Reiten, Geburtsvorgang
SS: In der Schwangerschaft (bes. 3. Trimenon) zeigt sich dagegen oftmals eine Besserung der Symptomatik.
Hyp: - hormonelle Umstellung
- diaplazentare fetomaternale Übertragung von C1-INH
Kopl: - Larynxödem
Man: i.d.R. über längere Zeit bis Stunden (i. G. zum schnell progressiven Larynxödem nach z. B. Insektenstichen)
DD: Reinke-Ödem
Pa: Ödem der vorderen zwei Drittel der Stimmlippen mit Polypen, grauer Verfärbung und Verdickung
Ät: Allergien, Nikotinabusus, stimmliche Überlastung
Kopl: i. G. zum Quincke-Ödem führt das Reinke-Ödem nie zur Erstickung
- GI-Symptome
KL: Dysphagie, Globusgefühl, Nausea, Emesis, Diarrhoe, Bauchschmerzen
Vork: ca. 70% d. F.
Note: charakteristisch und wichtig in der differentialdiagnostischen Abgrenzung zum akuten Abdomen sind insbes. abdominelle Schmerzattacken
- ZNS-Symptome
KL: Kopfschmerzen, Bewusstseinstrübung, Schwindel, Lähmungen
Note: Wahrscheinlich keine Blutungs- oder Thromboseneigung trotz Interaktion des C1-INH mit dem Fibrinolyse-/Gerinnungssystem.
Di: - Plasmaspiegel von C3 und C4
Erg: Normales C3 bei stark erniedrigtem C4 (und C2) ist der typische Befund, dem eine immunologische und funktionelle Bestimmung des C1-Esterase-Inhibitors folgen sollte
CV: In Ausnahmefällen kann eine C4-Erniedrigung nur im Anfall nachgewiesen werden.
Verl: Zur Verlaufskontrolle reichen C3- und C4-Bestimmungen
- C1-INH-Konzentration und C1-INH-Aktivität
- Messung des C1r-Verbrauchs
Bed: Bestimmung der C1-INH-Funktion
Meth: Messung der Komplexbildung zwischen C1r und C1-INH (Angaben in Prozent)
- C1q
Erg: erniedrigte Werte nur bei erworbenen Fällen des Angioödems (C1q-Ak), nicht bei hereditären
Folg: gründliche Durchuntersuchung des Pat. hinsichtlich maligner Lymphome, Paraproteinämien etc.
- CH50
- C1-INH-Ak
DD: - Urtikaria
- allergische Reaktion
- Melkersson-Rosenthal-Syndrom (MRS)
- Morbus Morbihan (Rosazea)
- SLE
- Neoplasien
- rezidivierendes Angioödem mit Blut- und Gewebseosinophilie
- eosinophile Fasziitis
CV: auch mit Eosinophilie
- H-Ketten-Krankheit
KL: insbes. Uvulaödem und Schwellung im Bereich des weichen Gaumens
- akutes Abdomen bei GI-Symptomatik
CV: Klinisches Leitkriterium ist beim hereditären Angioödem geradezu das Nichtansprechen auf klassische antiallergische Therapie. Vermeintliche Effekte sind auf den selbstlimitierenden Charakter des Angioödems zurückzuführen.
Th: - bei unklarer Ätiopathogenese des Angioödems (Histamin- oder Bradykinin-vermittelt):
Stoff: - Antihistaminika
Ind: - Akut- bzw. Notfall
- im Intervall zur Rezidivprophylaxe
- Prednisolon
Ind: Akut- bzw. Notfall
Dos: 250-500 mg i.v.
- Adrenalin
Ind: Akut- bzw. Notfall
Appl: Injektion oder Dosieraerosol
- Icatibant
Def: Bradykinin-B2-Rezeptorantagonist
Phar: Bitte registrieren / anmelden
Ind: Akut- bzw. Notfallbehandlung (für Erwachsene auch zur Selbstbehandlung) bei hereditärem Angioödem (für Kinder ab 2 Jahren zugelassen)
Dos: 30 mg (Erwachsene)
Appl: s.c.
- Omalizumab
Lit: J Dtsch Dermatol Ges. 2013 Jul;11(7):676-8. http://doi.org/10.1111/ddg.12075, suppl. (Hamburg), J Dtsch Dermatol Ges. 2024 Apr 9. http://doi.org/10.1111/ddg.15359
- Ketotifen
Lit: Clin Exp Dermatol. 2013 Mar;38(2):151-3. http://doi.org/10.1111/j.1365-2230.2012.04430.x
PT: CR (Vibrations-getriggertes Angioödem mit Versagen von Omalizumab)
- bei bekanntem C1-INH-Mangel oder Versagen der o. g. Therapie
Stoff: - C1-Inhibitor-Konzentrat
Bed: GS bei bekanntem C1-INH-Mangel
Ind: - im Akutfall / Notfall
Phar: Bitte registrieren / anmelden
- Kurzzeitprophylaxe vor operativen Eingriffen (insbes. im HNO-Bereich) und vor Intubationsnarkosen
Phar: Bitte registrieren / anmelden
Altn: Kombinationsgabe von Tranexamsäure (1-1,5 g/Tag) und Danazol (600 mg/Tag) ca. 5 Tage präoperativ und ggf. weiter bis zu 3 Tage postoperativ
- Langzeitprophylaxe (im Intervall zur Langzeitsubstitution)
Phar: Bitte registrieren / anmelden
Eig: - klinische Besserung ca. 20-30 min nach i.v.-Infusion bei Schleimhautödemen des Respirations- und GI-Trakts
- HWZ = 72 h
Lab: Kontrolle des C4-Spiegels (soll ansteigen)
Pos: offenbar keine Bildung von C1-INH-Alloantikörpern
Altn: - Frischplasma oder Gefrierplasma (FFP = "fresh frozen plasma")
Vor: - Blutgruppenkompatibilität
- erfolgte Testung auf Virussicherheit
Pos: - heutzutage vernachlässigbares Infektionsrisiko
- Gabe war in der Praxis bisher vielfach lebensrettend
Neg: theoretische Gefahr der Verschlechterung der Symptomatik, da nicht nur C1-INH, sondern Komplementfaktoren zugeführt werden
- lyophilisiertes gerinnungsaktives Humanplasma
Note: Blutgruppenkompatibilität ist keine Voraussetzung.
- rekombinanter humaner C1-Inhibitor (rhC1INH)
Phar: Bitte registrieren / anmelden
- Hemmung von Plasma-Kallikrein
Stoff: - Lanadelumab
Appl: s.c.
Phar: Bitte registrieren / anmelden
- Berotralstat
Appl: p.o.
Phar: Bitte registrieren / anmelden
- Danazol
Phar: Bitte registrieren / anmelden
Def: attenuiertes Androgen
Wirk: Stimulation der Synthese des C1-INH in der Leber
Folg: therapeutischer Effekt erst nach einigen Tagen
Ind: Langzeitprophylaxe im Intervall bei männlichen Pat., wenn eine i.v.-Applikation abgelehnt wird oder unmöglich ist
Bed: Intervalltherapeutikum mit deutlicher Reduktion der Anfallshäufigkeit und Letalität; weitgehend obsolet und nur über internationale Apotheken erhältlich
NW: anabol, antiöstrogen, antigestagen, antigonadotrop
Note: unerwünschte Wirkungen i.d.R. aber eher geringgradig ausgeprägt
CV: wegen gelegentlicher irreversibler Senkung der Stimmlage vorher HNO-Konsil
Dos: Kps. von 50, 100 und 200 mg
Wirk: - Synthesesteigerung des C1-Inhibitors
Hyp: Bindung an Steroidrezeptoren der Leberzelle
- sowohl bei quantitativen als auch funktionellen C1-INH-Defekten
Neg: V. a. schlechte Wirksamkeit bei dem Autoantikörper-bedingten Typ (II) des erworbenen Angioödems
Lab: messbare Erhöhung des C1-INH (quantitativ und funktionell) und des C4 nach mehrmonatiger Behandlung; ferner ist die Bestimmung des C1r-Verbrauchs sinnvoll
CV: Kontrazeption von gebärfähigen Frauen unter Danazol-Therapie
Meth: Östrogenhaltige Kontrazeptiva sind kontraindiziert; Zurückgreifen auf z. B. die intrauterine Spirale
- Tranexamsäure
Phar: Bitte registrieren / anmelden
Def: Antifibrinolytikum
Ind: - Langzeitprophylaxe
- insbes. ggf. noch bei Kindern (als Alternative zu attenuierten Androgenen)
Dos: 500 bis 1000 mg
NW: Thrombosen
- Ecallantid (DX-88)
Def: Plasma-Kallikrein-Inhibitor
Bed: nicht zugelassen in der EU
Ind: Akutfall / Notfall
Dos: 30 mg s.c.
Lit: J Allergy Clin Immunol. 2011 Jul;128(1):153-159
PT: RCT
- Intubation und Tracheotomie als Ultima Ratio
- hämatopoetische Stammzell-Transplantation
Lit: J Allergy Clin Immunol. 2013 Sep 11. pii: S0091-6749(13)01193-7. http://doi.org/10.1016/j.jaci.2013.07.035 (UK)
Ind: C1q-Defizienz
Prop: - Notfallset und -pass
Note: - Bei fehlender quantitativer oder funktioneller C1-INH-Defizienz besteht die Notfall-medikation z. B. aus Celestamine N liquidum®, Fenistil-Trpf.® und Fastjekt®.
- Sinnvoll ist bei bekanntem C1-INH-Mangel das ständige Mitführen von 1-3 Ampullen C1-INH-Konzentrat und bei drohender Symptomatik die umgehende Konsultation eines Arztes unter Vorlage eines Nothilfepasses.
- Dauermedikation im Intervall (s. oben)
- perioperative Medikation (s. oben)
- familiengenetische Erhebungen zur Diagnostik bisher asymptomatischer Blutsverwandter mit hereditärem Angioödem
Zus: Klinische Hinweise auf eine C1-INH-Defizienz bei Angioödemen sind Familiarität, Erstmanifestation in den ersten beiden Lebensjahrzehnten, Lokalisation nicht nur im Gesicht, sondern auch insbes. an den Extremitäten, fehlender Juckreiz und fehlende Quaddelbildung, rezidivierende abdominelle Schmerzattacken. Beweisend sind dazu kongruente Laborbefunde.